Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 356, K. 08-II

Episode Nr.
82

Redundanz und Varietät sind zwei sich gegenseitig steigernde Bedingungen der Möglichkeit juristischer Argumentation. Insbesondere durch sequenzierte Konditionalprogramme erhöht das Rechtssystem seine Varietät.

Gerechtigkeit bedeutet im Rechtssystem konsistentes Entscheiden. Konsistenz wiederum wird in der juristischen Argumentation durch Redundanz gewährleistet. Sie sorgt dafür, dass jede einzelne Entscheidung im Verlauf des Kommunikationsprozesses konsistent ist. Mangelnde Konsistenz kann als Fehler bemängelt werden.

Auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung scheint es nur um dieses Erkennen von Fehlern zu gehen. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung lässt sich jedoch erkennen: Dieser Operationsmodus, die Art und Weise, wie die rechtliche Kommunikation voran prozessiert, ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass die Gesellschaft ihr Rechtssystem als autonomes Kommunikationssystem anerkennt.

Denn Redundanz schränkt die Möglichkeiten funktional ein, mit denen an den Neuigkeitsgehalt einer Information angeschlossen werden kann. Zugleich zwingt sie dazu, ungleiche Fälle als ungleich zu markieren und die Varietät zu steigern. Varietät heißt: Das System ist in der Lage, viele verschiedenartige Fälle zu bearbeiten.

Die Begriffe Information, Redundanz und Varietät hängen wie folgt zusammen: Redundanz ist diejenige Information, die man schon hat, um eine neue Information zuordnen zu können. Varietät ist die Information, die einem dazu noch fehlt. Sie muss erst ermittelt werden. Das heißt, von einem vorliegenden Fall aus der Vergangenheit muss mithilfe von Redundanzen auf den aktuellen Fall geschlossen werden. Ist er ungleich, ist Varietät notwendig.

Redundanzen haben unterschiedliche Qualitäten. Manche Formen sind mit mehr Varietät kompatibel als andere. Luhmann hebt sequenzierte Konditionalprogrammen hervor: Durch Wenn-dann-Programme lassen sich mehrere Bedingungen miteinander vernetzen. Wenn A und B und C gegeben sind, dann… Diese Bedingungen müssen alle gleichzeitig gegeben sein. Sie sind nicht hierarchisch, sondern heterarchisch miteinander vernetzt. Je mehr Bedingungen eingezogen sind, desto mehr Anschlussmöglichkeiten ergeben sich logisch daraus. Kurz: Durch sequenzierte Konditionalprogramme steigert das System seine Varietät.

Beschreiben lässt sich ein solcher Operationstypus auch mit anderen Begriffen. Man kann auch sagen: Das Rechtssystem legt Falltypen fest und schließt von einem Typus auf einen anderen. Oder: Es legt Rechtsinstitute fest und organisiert seine Vorgehensweise über Prinzipien. In jedem Fall lässt sich erkennen: In Form von Wenn-dann-Programmen legt das Recht Bedingungszusammenhänge fest. Ein in einem Institut entwickeltes Programm gilt dann aber nicht „automatisch“ für alle anderen Institute oder Fälle. Was verschiedene Rechtsgebiete entwickeln, ist nur lose miteinander gekoppelt („loose coupling“), nicht strikt.

Varietät und Redundanz steigern sich gegenseitig. Durch mehr Redundanz lässt sich mehr Varietät herauskitzeln. Und mehr Varietät steigert – wie nebenbei – die Anzahl zukünftiger Redundanzen. Jede Variation eines Sachverhalts macht es erforderlich, neue Regeln zu bilden, um die Abweichung zu managen. Die neue Regel schafft dann wiederum neue Anschlussmöglichkeiten für zukünftige Fälle und zukünftige Abweichungen.

Man landet beim Evolutionsbegriff: Evolution ist der Prozess aus Variation, Selektion und Restabilisierung. In der Kommunikation heißt das: Jede einmal akzeptierte Variation bietet neue Anschlussmöglichkeiten für weitere Variationen. Die Evolution verläuft zirkulär. Variationen ermutigen dazu, Variationen zu wagen. Auf diese Weise kann das Recht auch auf veränderte Erwartungen aus der Umwelt reagieren, z.B. im Klimaschutz.

Die Begriffe Redundanz und Varietät sind also nicht rechtsspezifisch, sondern evolutionstheoretische Grundbegriffe. Sie bezeichnen entgegengesetzte Anforderungen, die gleichzeitig existieren. Das bedeutet jedoch keinen klassischen „Widerspruch“, der aufgelöst werden müsste. Stattdessen besteht der Sinn darin, Widersprüche bewusst zu machen, um sie konsistent aufzulösen: durch Abweichung vom bisherigen Operationsmodus. Durch Varietät.

In der finalen Begründung tauchen zuvor aufgelöste Widersprüche dann nicht mehr oder nur noch in angedeuteter Form als Widerspruch auf. Die Begründung stellt stattdessen nur noch auf Fallgruppen ab. Voran ging jedoch ein kommunikativer Prozess, der aus Kaskaden von Einzelentscheidungen bestand. Diese wurden jeweils mithilfe von Redundanz und Variation konsistent entschieden. Die finale Begründung ist gerecht im Sinne des Rechtssystems.

Die Soziologie kann diese Kommunikationsprozesse evolutionstheoretisch begreiflich machen. Rechtstheorien können darauf verzichten, wenn es ihnen hauptsächlich darum geht, sinnvolle Hilfestellung für die praktische Arbeit zu geben. Was ihnen dann allerdings entgeht, ist ein vertieftes Verständnis dafür, wie sich das Rechtssystem seine Entscheidungen herbeikonstruiert. Die Gefahr ist dann: Wenn Theorien sich den operativen Konstruktivismus des Rechts nicht bewusst machen, riskieren sie, systemfremde Begründungsbegriffe anderer Systeme, etwa der Politik, nicht als systemfremd zu identifizieren. Dies ist zum Beispiel bei „Interessen“ der Fall. Luhmann will später zurückkommen.

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