Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 226, K. 05

Episode Nr.
51

Um die historische Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs nachzuvollziehen, muss die jeweils zugrundeliegende gesellschaftliche Differenzierungsform mitbedacht werden. Ob die Gesellschaft tribal, ständisch oder funktional differenziert ist, bildet jeweils die Bedingung der Möglichkeit dafür, ein Verständnis von Recht und Gerechtigkeit zu entwickeln.

In tribalen (segmentären) Gesellschaften war Reziprozität die praktizierte Norm. Die Gesellschaft war nach Familien, Stämmen und Verbänden in gleichwertige Gruppen differenziert. Diese unterstützten sich gegenseitig, vor allem durch Produktionsüberschüsse – gleichsam die Sozialversicherung jener Zeit.

Gaben hatten eine wichtige Funktion: Geber und Empfänger wissen beide voneinander, dass beide voneinander wissen, dass der Empfänger einer Gabe sich bei Gelegenheit revanchieren sollte. Jede Gabe schafft eine unausgeglichene Situation, ein Schuldverhältnis. Das wird jedoch nicht mitkommuniziert. Es gibt keine Rechtsinstitution, die Ansprüche regeln könnte. Als Ersatz für die Klagemöglichkeit fungiert die offene Konditionierbarkeit der Revanche: Ob, wann und in welcher Form sich eine Gelegenheit bieten wird, ist offen.

Reziprozität bedeutet doppelte Kontingenz. Erwartungen treffen aufeinander und können erfüllt oder enttäuscht werden. Die Erwartung eines als „gerecht“ empfundenen Ausgleichs wird ohne Termin in die Zukunft verschoben.

Damit erfüllt Reziprozität die soziale Funktion des Rechts: normative Zukunftserwartungen kontrafaktisch zu stabilisieren. Eine Enttäuschung im Einzelfall ändert nichts an der Erwartung. Die soziale Funktion des Rechts ist von der gesellschaftlichen Differenzierungsform unabhängig!

In der tribalen Gesellschaft bedeutete Gerechtigkeit vor allem Verteilung (distributiv) und Vertauschung (commutativ) sowie Vergeltung von Schuldverhältnissen.

In stratifizierten (geschichteten) Gesellschaften, die allesamt über Schriftkultur verfügten, wurde die Maxime der Reziprozität an die Schichtung in Adel/Volk angepasst. Leistungen des Adels wurden höher bewertet. Die dem Recht zugrundeliegende soziale Differenzierungsform setzte sich fort, indem das Recht zwischen zwei Ständen differenzierte.

In komplexeren, funktional differenzierten Gesellschaften ist Reziprozität nicht mehr praktikabel. Auch die Wirtschaft wandelt sich nun zum Funktionssystem und spuckt „Marktpreise“ aus. Der Wert einer Leistung ist im Verhältnis dazu kaum noch einzuschätzen.

Die Norm verliert auch deshalb ihre praktische Bedeutung, weil Ausbildung und Profession in Recht und Politik wichtiger werden als Herkunft. Mit den entstehenden Richterrollen ist Reziprozität unvereinbar, weil dies schlicht Korruption bedeuten würde.

Das Rechtssystem autonomisiert sich und entwickelt aus der Idee der Gleichheit die normative Regel, gleiche Fälle gleich zu behandeln und ungleiche Fälle ungleich. Erst durch die Zuhilfenahme des Begriffs der Gleichheit wird Gerechtigkeit definierbar: als konsistentes Entscheiden innerhalb des Rechtssystems.

Darin liegt ein Abstraktionsschritt im Verhältnis zu den bisherigen Rechtsvorstellungen. Das Rechtssystem entfernt sich von der Einzelfallbetrachtung und reproduziert stattdessen seine eigenen Entscheidungen.

Die Betrachtung verlagert sich weg von der Frage, was jemandem „mehr oder weniger“ zusteht (als Ausgleich oder Strafmaß) – hin zu der komplexen Frage, wie man den Fall anhand von rechtmäßigen Kriterien als gleich oder ungleich zuordnen kann. Die Kriterien legt das Rechtssystem autonom fest. Es macht sie in Textstellen identifzierbar, auf die es sich in seinem selbstreferentiellen Netzwerk bezieht. Bedeutung gewinnt nun die Frage, ob die Kriterien richtig/falsch zugeordnet werden.

Einige Konsequenzen liegen auf der Hand. Metaphysische Kategorien, die Gerechtigkeit als moralisch geboten, als Tugend, Wert oder Prinzip gepriesen hatten, lassen sich mit einem operativ geschlossenen Funktionssystem, das konsistent entscheidet, nicht länger vereinbaren. Es kann darum auch keine „Gerechtigkeit und Billigkeit“ mehr geben, so als gäbe es zwei Gerechtigkeiten, sondern eben nur – Gerechtigkeit.

Auch Kriterien wie gesellschaftlicher „Stand“, Armut/Reichtum oder Lebenswandel dürfen bei der Urteilsfindung keine Rolle mehr spielen. Ausnahme: Es handelt sich um „Tatbestandsmerkmale“, die das System (und nur das System!) für rechtsrelevant erklärt.

Die Norm des konsistenten Entscheidens wird somit abgekoppelt von gesellschaftlichen Moralvorstellungen.

Doch es gibt ein Problem mit der Definition von Gerechtigkeit als konsistentes Entscheiden. Denn es gibt ja noch das politische System, das parallel zum Funktionssystem heranreift. Hier werden ebenfalls rechtliche Entscheidungen getroffen, in Form von Gesetzgebung.

Die Entwicklung des Rechts wird zunehmend auf das politische System übergeleitet. Seitdem wird über Gerechtigkeit vor allem im Zusammenhang mit Gesetzgebung nachgedacht. Das Politiksystem ist jedoch nicht daran gebunden, konsistent zu entscheiden. Es legt Zweckprogramme auf und ist dabei von der Gunst der WählerInnen in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft abhängig.

Zweckprogramme stehen im direkten Widerspruch zu den Konditionalprogrammen des Rechtssystems. Der Gesetzgeber kann ungleiche Fälle auch gleichbehandeln und gleiche Fälle ungleich.

An dieser Stelle gibt es einen Konsistenzbruch. Politische Zweckprogramme inkludieren eine Gruppe und exkludieren alle anderen, für die das Programm nicht gilt (und die es dennoch durch Steuern mitbezahlen müssen). Die Gesellschaft muss von „positiven Absichten“ des Gesetzgebers ausgehen und „zeitliche Ungerechtigkeit“ akzeptieren, bis das Rechtssystem Klagen abgearbeitet hat und Präzedenzfälle schafft. (Anm.: Ggf. kann das Gericht auch den Gesetzgeber zur Nachbesserung auffordern, um mehr Gleichbehandlung zu erreichen.)

Zwischenfazit: Eine Definition von „Gerechtigkeit ist konsistentes Entscheiden“ trifft im Politiksystem nicht zu. Aber kann es überhaupt eine übergreifende Definition geben, die den konträren Umgang mit Gleichheit im Rechts- und Politiksystem vereint? Die Frage, was Gerechtigkeit ist, steckt an diesem Punkt in einer Sackgasse.

In der nächsten Episode geht es um die Frage, ob es daraus einen Ausweg gibt. ☺

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