Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 214, K. 05

Episode Nr.
48

Start des 5. Kapitels über die „Kontingenzformel Gerechtigkeit“. Was ist Gerechtigkeit? Lässt sich das überhaupt abschließend definieren? Um das Problem einzukreisen, limitiert Luhmann das Spektrum möglicher Fragen. Er führt Unterscheidungen ein und legt dadurch fest, welche Fragestellungen er weiterverfolgen will und welche nicht.

Das Ergebnis fasst er am Abschnittsende auf Seite 218 zusammen.

1. Offenbar handelt es sich bei dem Begriff Gerechtigkeit um Selbstreferenz als Beobachtung. Diese ist zu unterscheiden von Selbstreferenz als Operation.

Als Operation bedeutet Selbstreferenz, dass sich das Rechtssystem in der Kommunikation auf seinen binären Code bezieht, indem es zwischen Recht und Unrecht unterscheidet.

Als Beobachtung bedeutet Selbstreferenz, dass sich das System bei seinen Operationen beobachtet: ob die Unterscheidung vollzogen wird, und ob die Kriterien zur Anwendung dieser Unterscheidung richtig oder falsch angewendet werden.

Selbstreferenz wird also in zwei analytisch unterscheidbare Formen unterteilt. (Wobei die Beobachtung der eigenen Operationsweise wiederum selbst Thema der Kommunikation werden kann: Wenn nachgefragt wird, ob die Kriterien richtig/falsch angewendet wurden.)

2. Als weiterer Punkt lässt sich festhalten, dass Gerechtigkeit auf der Ebene von Programmen angesiedelt sein dürfte. Aber nicht als irgendein Programm unter anderen, so als könnte man mal mit, mal ohne Gerechtigkeit operieren. Sondern als eine Art Programm aller Programme, das alle Konditionalprogramme (Wenn-dann-Programme) anleitet, mit deren Hilfe zwischen Recht und Unrecht unterschieden wird.

Programmebene heißt zugleich, dass das Problem „Was ist Gerechtigkeit?“ nicht auf der Ebene des Codes angesiedelt ist. Denn dann müsste man zwischen Recht, Unrecht und „gerechtem Recht“ unterscheiden. Das System würde sich selbst blockieren.

Stattdessen soll die Unterscheidung der Code-Werte stets Gerechtigkeit hervorbringen. Das „Ergebnis“ erscheint wie eine Art dritter Wert, ist aber wie gesagt kein Code-Wert.

3. Der Begriff „sollen“ deutet bereits darauf hin, dass Gerechtigkeit die Form einer Norm hat. Normen sind das, „was gesollt ist“: Es handelt sich um Erwartungen, die auch enttäuscht werden können. Das bedeutet, dass es auch Rechtssysteme geben kann, die die Erwartung von „gerechten“ Entscheidungen enttäuschen können.

Aber wessen Erwartungen? Hier ist zwischen der Umweltperspektive und der Binnenperspektive des Rechtssystems zu unterscheiden. Was die Gesellschaft und die anderen großen Funktionssysteme wie Wirtschaft oder Politik für gerecht halten, muss nicht mit der Gerechtigkeitsvorstellung des Systems übereinstimmen.

Aus der Perspektive des Rechtssystems ist Gerechtigkeit eine selbstreferentielle Norm. Das System konfrontiert sich selbst damit, dass es durch die Unterscheidung von Recht und Unrecht eine Entscheidung hervorbringen soll, die im System nach systeminternen Normen für gerecht erklärt werden kann (und bei der Umwelt durchgeht, könnte man sagen).

Die Überschrift des Kapitels deutet es an: Gerechtigkeit erscheint nach diesen Vorüberlegungen zunehmend wie eine „Kontingenzformel“. Es liegt nahe, dass es auch anders kommen kann. Was damit gemeint ist, folgt im nächsten Abschnitt.

 

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