Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 400, K. 08-IX

Episode Nr.
89

Welche Funktion hat die Logik für die juristische Argumentation?

„Logisches Schließen“ ist in der juristischen Argumentation Standard. Bei der Interpretation des geltenden Rechts werden Argumentation und Begründung so formuliert, dass sie möglichst nur eine logisch zwingende Schlussfolgerung zulassen. Die Argumentation darf nicht logisch fehlerhaft sein. Gleiches gilt für den Umgang mit Argumenten und Begründungen der Gegenseite: Sie werden auf Logikfehler gescannt und gegebenenfalls rekonstruiert. Man widerlegt das Vorgebrachte als unlogisch und dirigiert die Kommunikation auf andere Argumente und Begründungen um, die eine andere Entscheidung erzwingen sollen. Kurz, wer mit Logik argumentiert, hat es in der „Hand“ (lateinisch: manus), die Argumentation in die gewünschte Richtung zu lenken. Die Funktion der Logik hat also eine negative Seite: Diese besteht im Erkennen und Vermeiden von Fehlern.

Auf der positiven Seite besteht die Funktion der Logik darin, mögliche Irritationen zu kanalisieren, die infolge der Entscheidung entstehen könnten. Ähnlich wie bei einer Folgenabschätzung wird antizipiert, ob die Entscheidung im Einzelfall logisch zwingende Folgen etwa für andere Rechtsgebiete und normative Erwartungen haben könnte. Welchen Radius entfaltet die Entscheidung womöglich? Dies gilt es vorherzusehen.

Zugleich helfen Logikfragen einzuschätzen, ob bisherige Regeln zur Entscheidungsfindung noch sinnvoll sind – oder ob sie durch ein „Overruling“ ersetzt werden müssen; eine Regel, die die bisherige Regel ersetzt. Umgekehrt kann es sinnvoll sein, das Recht nicht zu ändern, um unerwünschte Folgen zu vermeiden, die eine Änderung nach sich zöge. Das Kanalisieren von Irritationen dient also auch der sozialen Funktion des Rechtssystems schlechthin: normative Verhaltenserwartungen kontrafaktisch zu stabilisieren.

Obwohl jede Rechtsentscheidung „rational“ (= logisch) begründet wird, handelt es sich nicht um Rationalität auf Meta-Ebene, die sich allen Individuen und Funktionssystemen gleichermaßen erschließen würde. Sondern: um lokal begrenzte Rationalität, die sich allein auf das Recht als operativ geschlossenes Funktionssystem bezieht. Also: um Systemrationalität, Systemlogik, Systemvernunft. Die gleiche Systemrationalität finden wir im politischen System: Alle Entscheidungen werden anhand der Frage gefällt, ob sie in Bezug auf Macht strategisch sinnvoll/nicht sinnvoll sind. Oder in der Wirtschaft: Alle Überlegungen sind durch die Frage gefiltert, ob sie wirtschaftlich/nicht wirtschaftlich sind. Jedes Funktionssystem folgt seiner eigenen Systemrationalität, die durch Codes gefiltert ist.

Logik ist jedoch keine Garantie dafür, dass es nur eine einzige richtige Entscheidung gibt. Der Rechtsstreit zwischen zwei Parteien konfrontiert das Gericht mit zwei entgegengesetzten Argumentationssträngen, die womöglich gleich gut begründet sind. Dann muss die Entscheidung anhand von qualitativ weniger elaborierten Unterkriterien gefunden und begründet werden. Die Einhaltung von Verfahrensregeln übertüncht hier leicht, dass die Entscheidungsfindung gar nicht in der Lage wäre, den Informationsbedarf in zwei Richtungen „vollständig“ ins Rechtssystem einzuführen.

Statt Rationalität auf Meta-Ebene finden wir Systemrationalität vor, mit der sich das Recht mithilfe der Logik in operativer Geschlossenheit reproduziert und seine Autonomie gegenüber der Umwelt wahrt, auch und gerade, wenn sich die „Umstände“ ändern.

Logik führt auch nicht zu „mehr Komplexität“. Evolutionstheoretisch ist es umgekehrt: Die Erfindung der Logik war bereits eine Reaktion auf die – infolge der Evolution – steigende Komplexität. Innerhalb eines Funktionssystems kann Logik die Komplexität nur lokal managen, jedoch nicht „vollständig“ bewältigen. Der dafür theoretisch benötigte Zeit- und Arbeitsaufwand setzen einem solchen Vorhaben „vernünftig“ erscheinende Grenzen.

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