Die Bedingungen der Möglichkeit juristischen Argumentierens bestehen aus einer Kombination von Institutionalisierung und Redundanz. Was bedeutet das?
Wenn man fragt, welche evolutionären Entwicklungen vorausgehen müssen, damit sich juristische Argumentation entfalten kann, bieten sich zwei Voraussetzungen an. Die erste besteht darin, dass sich die Rechtskommunikation institutionalisiert. Dies schränkt den Auswahlbereich möglicher Kommunikationen ein. Die zweite Voraussetzung ist, dass innerhalb dieses Rechtsinstituts normativ Redundanz angewendet wird. Redundanz erfüllt die Funktion, diejenigen Informationen auszuwählen, die rechtsrelevant sind.
Um zu beobachten, wie das Rechtssystem in der Argumentation seine Selbstreproduktion vollzieht, unterscheidet Luhmann Information von Redundanz. Eine Information ist der Überraschungswert einer Nachricht, der Neuigkeitswert. Redundanz schränkt nun die Anschlussmöglichkeiten ein. Sie selbst ist keine Information, sie enthält nichts, was nicht schon bekannt wäre. Stattdessen verweist sie darauf, dass die Information in der institutionell vorgeschriebenen Weise überprüft werden muss, inwiefern sie für die Entscheidungsfindung relevant ist.
Soziale Systeme benutzen immer beide Operationsweisen. Während Informationen neue Anschlussmöglichkeiten generieren, schränkt das laufende Bewusstmachen von Redundanz die Anschlussmöglichkeiten ein. Die Kommunikation muss stets sowohl auf das Neue (die Information) als auch auf das Redundante Bezug nehmen.
Redundanz ermöglicht Indifferenz in der Kommunikation. Ein vager Hinweis reicht. Weder ist es nötig zu erörtern, was der Hinweis für alle anderen Operationen des Systems bedeutet, noch für die Umwelt, z.B. für die Wirtschaft.
Rein sprachlich findet sich im Recht zwar ein hohes Maß an Redundanz: Viele Formeln und Sprüche eignen sich dafür, in diversen Situationen angewendet zu werden. Da jedoch viele Rechtsbegriffe unspezifisch sind, ist das eher Rhetorik. Im konkreten Fall muss semantisch präzisiert werden, was Redundanz in Bezug auf eine Information bedeutet. Das macht Arbeit und kostet Zeit. Es ist darum im „Interesse“ des Systems, sich nicht selbst mit zu vielen Informationen zu überlasten.
Neben dieser Funktion, das System vor Überlastung zu schützen, dient Redundanz dazu, Fehler zu erkennen und zu vermeiden. Je mehr Informationen ein komplexes System wie das Recht verarbeitet, desto mehr Redundanzen braucht es auch, um sich selbst überprüfen zu können, ob es fehlerfrei arbeitet. Oder zumindest: einen Weg zu finden, wie es mit eigenen Fehlern in einer legitim erscheinenden Weise umgehen kann. Ein hoher Redundanzwert führt dazu, dass das System lernt, mehr verschiedenartige Operationen durchzuführen. Es erhöht seine Varietät, indem es mehr Differenzen herausschält. So gesehen, produzieren Redundanzen dann auch Informationen – aber nur intern für das System.
Redundanzen dienen also zunächst dazu, Komplexität zu reduzieren, um dann von dieser Basis aus wiederum die Systemkomplexität zu steigern.
Die meisten Kommunikationen aus der Umwelt des Rechtssystems haben für das System keinen Informationswert. Durch Redundanzen filtert das System, was rechtsrelevant ist und was nicht. Es kann allen irrelevanten Informationen gegenüber indifferent bleiben. Umweltgeräusche (noise) können auf diese Weise abgewehrt werden.
Aber auch systemintern dienen Redundanzen dazu, Operationen entweder zu verknüpfen oder umgekehrt, keinen Zusammenhang herzustellen. Auf diese Weise managt das System Komplexität.
Unter Komplexität versteht die Theorie sozialer Systeme die Verknüpfbarkeit von Elementen (Kommunikationen) innerhalb eines Systems. Komplexität entsteht, sobald nicht mehr alle Kommunikationen gleichzeitig mit allen anderen verknüpft werden können. Dann muss eine Auswahl getroffen werden: Welches Element wird mit welchem verknüpft? Und in welcher Form: kreisförmig, sternförmig, pyramidal – mit oder ohne Ebenen-Kontakten? Ab wann Komplexität beginnt, hängt von der Anzahl der Elemente und von der Form ab, in der sie verknüpft werden. (Luhmann, „Soziologische Aufklärung 5“, „Haltlose Komplexität“, S. 54.)
Sobald eine Information als rechtsrelevant markiert wird, wird sie so umgeformt, dass sie für weitere Operationen anschlussfähig ist. Bei dieser Informationsverarbeitung werden jedoch, ohne dass dies intendiert war, gleichzeitig auch die Redundanzen mit reproduziert: „wie ein Schatten“, so Luhmann. Dies dient der laufenden Rückversicherung („stream of reassurances“, Shapiro), dass man sich noch im System befindet. Eine Abweichung von normativ vorgegebenen Redundanzen ist dabei kaum noch möglich.
Durch Redundanzen organisiert das System, wie es mit Informationen umgeht. Redundanzen wirken wie Attraktoren. Das Rechtssystem verlangt sich damit selbst ab, Informationen darauf zu überprüfen, ob sie mit den eigenen Vorgaben „matchen“ oder nicht. Metaphorisch könnte man sagen, Redundanz ist die „unsichtbare Hand“ des Rechtssystems. RichterInnen, Gesetzgeber, JuristInnen managen auf diese Weise Informationen.
Evolutionstheoretisch bedeutet Redundanz, im Chaos der Gesellschaft als System operieren zu können, ohne dabei auf die Einheit des Systems angewiesen zu sein. Es gibt keinen Anfangspunkt oder „Grund“ dafür, dass sich bestimmten Redundanzen als Attraktoren herausbilden. Sie entstehen durch Anwendung von Sprache, die es technisch hergibt, Differenzen zu erzeugen. Einige werden im historischen Verlauf als besonders wichtig selektiert, ohne dass es einen Plan dafür geben könnte. Jede Selektion ist kontingent, es könnte auch anders ausgewählt werden. Kommunikationstheoretisch könnte man sagen, Redundanzen funktionieren wie „Werte“. Man klammert sich an sie, weil sie Ordnung ins Chaos bringen; welche auch immer.
Bei Redundanz ist also ein Doppelaspekt zu beachten: Dass die Kommunikation laufend auf Redundantes verweist, ist intendiert. Dass die Redundanzen dabei mit reproduziert werden, ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Diese Vorgehensweise sorgt dafür, dass die Rechtskommunikation nur in einem sehr eingeschränkten Rahmen prozessieren kann. Eine Kommunikation, die diese Vorgaben nicht erfüllt, kann als fehlerhaft zurückgewiesen werden.
Die hier beschriebene Art und Weise, wie die Rechtskommunikation sich selbst darin beschränkt, was sie als Rechtsfrage zulässt oder nicht, wird in der Rechtstheorie auch als Institution bzw. Institutionalisierung bezeichnet. Allerdings wird dabei mit „Begründungen“ gearbeitet, auf Brauchtum und praktische Vorzüge verwiesen und die „Vernunft“ angeführt. D.h. derartige Theorien gehen nicht über die Ebene der Beobachtung erster Ordnung hinaus.
Statt von „vernünftiger“ Argumentation zu sprechen, verweist Luhmann auf die Varietät der Fälle. Das Rechtssystem mutet sich zu, immer mehr Unterschiede zu erkennen und diese in immer feineren sprachlichen Unterscheidungen zu markieren. Die Leistung der „Begründung“ besteht dann darin, auf Redundanzen Bezug zu nehmen und diese auf den konkreten Fall zu beziehen.
Neuen Kommentar hinzufügen