Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 348, K. 08-II

Episode Nr.
80

Wie die Theorie sozialer Systeme „juristische Argumentation“ konstruiert

Herkömmliche Argumentationstheorien gingen von einem essentialistischen Weltbild der Vormoderne aus und definierten juristische Argumentation als überzeugendes Begründen, das auf das Wesen der Dinge geht. Für Begründungen gibt es jedoch keine Letztbegründung. Man landet unweigerlich bei der Autologie der „Vernunft“. Darum schlägt Luhmann eine Neudefinition vor. Diese orientiert sich strikt an der Kommunikation, die man im Rechtssystem vorfindet. Wie jede Kommunikation, verläuft auch juristisches Argumentieren nach dem Evolutionsschema Variation – Selektion – Restabilisierung. Dasselbe gilt für das Begründen. Immer handelt es sich um begriffliche Unterscheidungen, die selektiert werden (und darum kontingent sind). Juristische Argumentation ist demnach eine Kombination von je einer Seite dreier Unterscheidungen: Operation/Beobachtung, Fremd-/Selbstbeobachtung und strittig/unstrittig.

Zunächst kritisiert Luhmann, dass herkömmliche Argumentationstheorien auf antiken und vormodernen Denkweisen beruhen. Diese sind geprägt durch die Begriffe Topik, Rhetorik, Dialektik und Hermeneutik. Gemeinsam ist ihnen ein essentialistisches Weltbild. Sie setzen ein menschliches Subjekt voraus, welches die „Essenz“ der Dinge (das „Wesen“ des Objekts) zweifelsfrei erkennen könnte. In dieser Vorstellung dient Argumentation dem Finden einer quasi einzig gültigen Wahrheit.

Topoi (der Plural von Topik) sind Sprachbilder, die man heutzutage wohl am ehesten als Frames (Rahmen) bezeichnen würde. Etwa: eine Metapher, eine Verkettung von zwei Begriffen zu einem neuen Begriff (z.B.: Klima-Krise) oder eine Redewendung. Ein Frame legt unausgesprochen mehrere Eigenschaften, Bewertungen und Entscheidungen gleichzeitig nahe. Auf diese Weise liefert er, bewusst oder unbewusst, Informationen, aus denen man Argumente schöpfen kann. Z.B. legt der Begriff Terroranschlag mehrere Vorstellungen gleichzeitig nahe: Ereignisablauf, Opfer, Täter, Ursache, Folgen. Jede Einzelannahme kann unterschiedlich stark/schwach vorgeprägt sein. In einem Frame werden also diverse Denkschemata zu einem gemeinsamen Sinnhorizont verknüpft. Ein anderes Beispiel ist die „unsichtbare Hand“ von Adam Smith (1776). Dieses Sprachbild prägte die Vorstellung, wie Preise zustande kommen. Letztlich ist die Topik ein Fachbegriff der Rhetorik: Es geht darum, andere zu überzeugen. Die Semantik, die pure Wortwahl legt bestimmte Deutungen nahe.

Rhetorik ist die sprachliche Kunstfertigkeit, so zu argumentieren, dass die Darstellung plausibel erscheint und beklatscht werden kann (lat.: applaudere). Zu diesem Zweck werden Ursachen und Wirkungen selektiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Schon Platon kritisierte, dass die Rhetorik weniger der Findung der „Wahrheit“ und mehr der Täuschung diene. Durch wohlfeiles Reden würde der Gesprächspartner regelrecht überredet.
Auch die Dialektik (altgriechisch: Kunst der Unterredung, im Dialog) ging davon aus, dass eine argumentative Form der Gesprächsführung zur „Wahrheitsfindung“ führen würde. Im Gegensatz zur Rhetorik handelt es sich jedoch um eine methodische Anleitung zur Argumentation. Einer These wird eine Antithese gegenübergestellt und aus dem Widerspruch eine Synthese abgeleitet, die diesen Widerspruch „aufzuheben“ scheint. Bei Hegel vereinte sich der Widerspruch zwischen zwei Gegensätzen zu einem höheren Dritten. Marx nahm an, historisch würden sich logisch die „besseren“ Verhältnisse durchsetzen. 
Hermeneutik wiederum ist die Lehre von der Interpretation der Zeichen. Ihren Namen verdankt sie Hermes, dem Götterboten. Beim Orakel von Delphi ging es darum, mystische Zeichen zu deuten. Die hermeneutische Kunst sollte die Sprache der Götter erhellen und Weissagung (Devination) ermöglichen. Davon hingen Entscheidungen ab!

Argumentationstheorien, die mit Topik, Rhetorik, Dialektik und Hermeneutik arbeiten, gehören also in den Bereich der Metaphysik. Diese Techniken dienten der Suche nach den Grundstrukturen und Urgründen der Welt. Im Gegensatz dazu geht Luhmanns Theorie sozialer Systeme davon aus, dass alle Erkenntnis eine Konstruktion eines Beobachters ist. Es ist die Kommunikation, die den Gegenstand erst konstruiert – mithilfe von Unterscheidungen und Bezeichnungen.

Der linguistic turn der Philosophie Mitte des 20. Jh. bedeutete eine Kehrwende. Er brachte auch neue normative Theorien über normatives Argumentieren hervor. Diese werden jedoch in der juristischen Praxis kaum beachtet. Luhmann hält diese Theorien für wenig hilfreich, um den Begriff der juristischen Argumentation neu zu definieren.
Stattdessen fragt er nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach der Funktion, die das Begründen für das Rechtssystem erfüllt. 

In der Praxis wird eine Begründung anhand eines Einzelfalls aufgezogen. Man sucht in der Vergangenheit nach gleichen oder besser: nach ähnlichen Fällen. Findet sich einer, versucht man, aus der damals gefällten Entscheidung eine Regel abzuleiten, die sich auf den aktuellen Fall übertragen lässt. Die Argumentation verläuft nicht vom Ganzen ausgehend, um dann auf sich selbst zu kommen (de toto ad seipsum). Sondern sie schlussfolgert vom (aktuellen) Einzelfall auf einen (früheren) Einzelfall (de parte ad partum). Kurz, sie orientiert sich an Beispielen. Diese exempla-Technik hat nicht „das Rechtssystem“ vor Augen. Sie versteht sich aber durchaus als Beitrag zu dessen Autopoiesis. Denn sie muss davon ausgehen, dass eine einmal akzeptierte Begründung auch in Zukunft wiederverwendet werden wird.

Eine Regel erneut anzuwenden, heißt jedoch keineswegs, sie einfach zu kopieren. Da jede Situation allein schon aufgrund ihrer Historie unterschiedlich ist, muss die Gleichheit des Falls erst juristisch konstruiert werden. D.h., gleiche Fälle sind nicht „an sich“ gleich, ihre Gleichheit ist das Ergebnis einer Konstruktion. Es gilt, Aspekte auszuwählen, die gleich sein müssen, um Gleichheit zu behaupten. Und umgekehrt: Es müssen Aspekte abgewählt werden, die für die Feststellung der Gleichheit irrelevant sein sollen. 

Diese Vorgehensweise findet sich bei Gerichten, die Präzedenzfälle behandeln, und bei der Interpretation von Gesetzestexten. Die bisherige Argumentationstheorie hatte die Gerichtspraxis so begriffen, dass sie feststehende Regeln anwenden würde. Stattdessen finden wir eine Praxis vor, die ihre Regeln während des Argumentierens laufend weiterentwickelt. 

Dies müsste eine Argumentationstheorie berücksichtigen: Sie muss beschreiben, wie die Argumentation durch Abweichungen in der Kommunikation prozessiert. Wie jede Kommunikation, ist Argumentieren und Begründen ein evolutionärer Prozess, der sich durch die Trias Variation, Selektion und Restabilisierung vollzieht. Es wird eine Abweichung gewagt, die Anschluss findet – oder nicht. Das „Ergebnis“, ob Ja oder Nein, dient in jedem Fall als Anschlusspunkt für die nächste Kommunikation. Auf diese Weise prozessiert die Kommunikation von Satz zu Satz, von Begriff zu Begriff. 

Kybernetik, Steuerungstechnik, hat diese Denkrichtung mit eingeleitet. Künstliche Intelligenz wie ChatGPT, die auf Sprache basiert, greift sie auf. Sie „serviert“ ein semantisches Konstrukt, dessen Anschlussfähigkeit hochwahrscheinlich ist; basierend jeweils auf den Daten, die dem Computer zur „Berechnung“ der Wahrscheinlichkeit zur Verfügung stehen. 

Begreift man Argumentation und Begründen abstrakt als Kommunikation, muss man also davon ausgehen, dass sie durch begriffliche Unterscheidungen prozessiert. Den Begriff der Argumentation definiert Luhmann darum neu mit Hilfe von drei Unterscheidungen: 1. Es handelt sich um eine Operation/Beobachtung. 2. Die Kommunikation unterscheidet zwischen Fremdbeobachtung/Selbstbeobachtung. 3. Die Kommunikation unterscheidet, ob die Begründung strittig/unstrittig ist. Juristische Argumentation ist demnach eine Kombination von jeweils einer Seite der vorgenannten Unterscheidungen.

Worin unterscheiden sich Operation/Beobachtung? Eine Operation ist eine rekursive Reproduktion von Sinngehalten. Worauf die Kommunikation rekurriert, ob auf sich selbst oder auf die Umwelt, ist damit noch nicht gesagt. Eine Beobachtung ist dagegen eine spezifische Operationsweise. Die Kommunikation nimmt Bezug auf die Differenz zwischen System/Umwelt. Diese Unterscheidung bringt sie auf zweierlei Weisen zum Ausdruck: 

Entweder sie bezieht sich auf die Einheit von System/Umwelt. Oder sie bezieht sich auf die Differenz zwischen System/Umwelt. In jedem Fall wird Differenz vorausgesetzt. Diese ist aber nicht „gegeben“, die Kommunikation konstruiert sie erst.

Auch die Unterscheidung Fremdbeobachtung/Selbstbeobachtung lässt sich in der Praxis feststellen. Solange die Kommunikation Sachfragen klärt, handelt es sich um Fremdbeobachtung (Beobachtung erster Ordnung): Das System beobachtet die Umwelt. Argumentieren und Begründen verlangt dagegen Selbstbeobachtung (Beobachtung zweiter Ordnung). Das System beobachtet sich selbst dabei, ob Argumentation und Begründung selbstreferentiell verlaufen, d.h., ob die Kommunikation Recht/Unrecht und gleicher/ungleicher Fall unterscheidet. Fehlt diese Selbstreferenz, wird dies bemängelt. 

Ob eine Begründung dann strittig/unstrittig ist, ergibt sich ebenfalls erst aus der laufenden Kommunikation. Strittig heißt, es muss weiter gestritten werden. Unstrittig bedeutet, die Begründung wird akzeptiert.

Welche Funktion erfüllt das Begründen für das Rechtssystem? Das geht aus dem neu konzipierten Argumentationsbegriff noch nicht hervor. Die Bedingungen der Möglichkeit lassen sich nur erkennen, wenn man einen Beobachter zweiter Ordnung einfügt. Also erneut: Selbstbeobachtung. Diese kann jedoch nie gleichzeitig während des Beobachtens stattfinden, sie ist zeitlich nachgelagert. Man reflektiert, wie man beobachtet hat. Luhmann will ein begriffliches Instrumentarium finden, mit dem sich beobachten lässt, wie das Rechtssystem in der Argumentation seine Autopoiesis vollzieht. Dazu mehr in der nächsten Episode.

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