Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 281, K. 06-III

Episode Nr.
64

Evolution ermöglicht die Entstehung komplexer Systeme. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit „Fortschritt“.

Wohin führt Evolution? Wie soll man das, was durch sie entsteht, bezeichnen? Diese Frage wird seit dem 18. Jh. unter dem Begriff des Fortschritts diskutiert. Bis heute ist „Fortschritt“ ein beliebtes Mindset, um Veränderung zu beschreiben. So steht der Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung von 2021 unter dem Titel: „Mehr Fortschritt wagen“.

Luhmanns Evolutionstheorie verzichtet auf die Aussage, dass Evolution zu Fortschritt führen würde. Der Grund ist: Fortschritt impliziert eine Bewertung, nach der Evolution erstrebenswert und planbar wäre. Man müsste demnach nur anstreben, das Bestehende zu verbessern, z.B. durch Technik, Arbeitsteilung oder Spezialisierung. Die Evolution kennt jedoch keine Motive. Sie kann auch destruktiv sein und Systeme zerstören.

Darum gehören auch die Begriffe „Zivilisation“ und „Geist“, wie sie im 18./19. Jh. diskutiert wurden, nicht in den Baukasten einer Evolutionstheorie. Sie verlängern die Annahme eines Fortschritts in Richtung auf eine durch vernünftiges Handeln verbesserbare Ordnung. Es liegt ein Wünschen darin, der Versuch einer Sinngebung. Wobei der „menschliche Geist“ dann auch noch die „Seele“ umfasst und dem göttlich geprägten Weltbild entstammt.

Die Frage ist außerdem: Fortschritt wovon? Frühere Evolutionstheorien setzten Errungenschaften als gegeben voraus, die erst durch Evolution entstanden sind. Z.B.: Eigentum, Schrift, Vertrag, Rechtsverfahren. Nicht zuletzt wurde der Fortschrittsgedanke stark durch die Industrialisierung und von ökonomischen Zielsetzungen geprägt.

Das zwingt zu einem neuen Ansatz: Entweder man ersetzt „Fortschritt“ durch einen genaueren Begriff. Oder man verzichtet darauf, überhaupt beschreiben und klassifizieren zu wollen, welche Art von Ordnung durch Evolution entsteht.

Die Theorie sozialer Systeme bietet präzisere Instrumente, indem sie stärker abstrahiert. Ausgangspunkt ist die einfache Aussage, dass Evolution die Bildung komplexer Systeme ermöglicht. In diesen Systemen und neben ihnen haben dann auch einfacher strukturierte Systeme eine Chance zu überleben.

Ein Ziel, auf das alles hinausläuft (télos), existiert nicht. Die Evolution ermöglicht die Formentstehung von Systemen, die sich auch bei hoher struktureller Komplexität reproduzieren können – mit einer hohen Anzahl an verschiedenartigen Operationen (Varietät).

Das setzt voraus, dass sie intern in der Lage sind, systemrelevante Informationen von nicht systemrelevanten Informationen zu diskriminieren. Im Recht also: rechtsrelevante Kommunikation von nicht rechtsrelevanter Kommunikation abzuscheiden.

Durch diese Operationsweise entsteht ungewollt höhere Komplexität. Bewältigt werden kann sie nur, indem das System abermals die Komplexität seiner Operationsweisen erhöht. Auf diese Weise reagiert die Evolution auf ihr eigenes Ergebnis. Erhöhte Anpassungschancen lassen sich daraus nicht eindeutig ableiten. Entscheidend ist, ob das System die zunehmende Komplexität bewältigen kann. Ein nicht mehr zu bewältigendes Übermaß an Komplexität kann die Autopoiesis auch zum Erliegen bringen. Soziale Systeme, die durch Kommunikation operieren, können untergehen.

Die Aussage an sich aber, dass Evolution höhere Komplexität in und zwischen Systemen ermöglicht, kann als unbestreitbares Faktum angesehen werden. Ein einfacher Beleg dafür ist, dass das Recht heute sehr viel komplexer ist als in der segmentären und in der stratifizierten Gesellschaft. Im Rückblick ist beobachtbar, dass die Evolution Unwahrscheinlichkeiten überwindet. Feststellbar ist dies als Grad der Abweichung vom Ausgangszustand.

Wie sich steigende Komplexität auf Variation und Selektion auswirkt, ist damit noch nicht geklärt. Die Theorie sozialer Systeme beantwortet diese Frage mit den Begriffen operative Schließung und umweltindifferente Codierung: Das System schließt die Umwelt aus, indem es Selbst- und Fremdreferenz unterscheidet. Bezieht sich die Kommunikation auf den Code Recht/Unrecht und unterscheidet diese beiden Werte? Dann handelt es sich um Selbstreferenz, die Kommunikation ist rechtsrelevant. Ist das nicht der Fall, handelt es sich um Fremdreferenz. Die Kommunikation bezieht sich auf die Umwelt und ist nicht rechtsrelevant. Insofern ist das System mithilfe des Codes indifferent gegenüber der Umwelt.

Eine Reihe von Errungenschaften belegen, dass das Recht auf gestiegene Komplexität reagiert hat. Wir hatten sie bereits erörtert, darum hier nur in Kürze: Die Rechtsgeltung wurde von externen Bezugnahmen auf Gott, Natur und Moral abgekoppelt. Geltung ist heute der Verweis auf geltendes Recht; also pure Selbstreferenz.

Besitz und Eigentum wurden unterschieden, ebenso wie die Transaktion vom Vertrag. Die Gewaltenteilung überwand das Prinzip der monarchischen iurisdictio, bei dem ein Herrscher Kläger und Richter in einem war. Durch Gewaltenteilung wurde die strukturelle Kopplung zwischen politischer Gesetzgebung und Rechtsprechung eindeutig geregelt. Das ermöglicht gegenseitige Verweismöglichkeiten. Ein letztes Beispiel ist: Im Gegensatz zu den Dogmen des Mittelalters gibt es heute unbestimmte Rechtsbegriffe.

Das derzeitige „Ergebnis“ lautet: Es gibt nur noch positives Recht. Und mehrere Quellen: Gesetzgebung, Rechtsprechung, Gewohnheitsrecht und ggf. auch noch die Rechtsdogmatik der Vormoderne.

Ein weiterer Begriff, mit dem die Theorie sozialer Systeme erklärt, wie die Evolution auf zunehmende Komplexität reagiert, ist die Temporalisierung der Komplexität. Ewiges Recht gibt es nicht mehr. Eine Entscheidung gilt exakt so lange, bis sie durch eine andere aufgehoben und ersetzt wird. Neues Recht annulliert altes Recht.

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