Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 257, K. 06

Episode Nr.
57

Im vorangegangenen Abschnitt wurde gezeigt, dass die Stabilisierung des Rechtssystems durch Verschriftlichung ermöglicht wird, die Variation wiederum durch Interpretation. Sowohl Sprache als auch Schrift sind selbst Produkte einer Evolution. Wenn wir also Mechanismen der Evolution untersuchen, müssen wir berücksichtigen, dass auch „die Bedingungen der Evolution ein Produkt der Evolution“ (S.257) sind.
Etwas unvermittelt wirft Luhmann die Forderung ein, dass die „Geschichtlichkeit der Geschichte“ berücksichtigt werden müsse.

Dies interpretieren wir so, dass Geschichte immer an den Zeithorizont einer Gegenwart gekoppelt ist, welche sie selbst durch das Reflektieren der Geschichte (Vergangenes) zu einer flüchtigen Gegenwart macht, also die Bedingungen ihrer Reflexion verändert und deshalb die Möglichkeit der Veränderung offenhalten muss. Dass es aber überhaupt einen Bereich gesellschaftlicher Kommunikation gibt, der unter der Kategorie „Geschichte“ zusammengefasst werden kann, ist selbst an geschichtliche Bedingungen geknüpft (z.B. den Zeitbegriff).
Bedingungen, die nicht schon immer gegeben waren, sondern erst durch Evolution hergestellt werden mussten. – Und die Frage ist: Was war vorher?

Welche evolutionären Mechanismen haben dazu geführt, dass die Bedingungen für neue evolutionäre Mechanismen entstehen konnten?

Sofern wir das Rechtssystem als Produkt der Evolution bezeichnen, sind wir nicht nur gefordert, die evolutionären Mechanismen anzugeben, mit dem  es dem System immer wieder gelingt, sich an die Umwelt anzupassen, sondern müssen auch berücksichtigen, dass die Voraussetzungen für solche Mechanismen nicht schon immer gegeben waren, sondern selbst durch Evolution entstanden sind.
Wenn wir also z.B. sagen: Schrift gibt dem Rechtssystem die Bedingung der Möglichkeit einer Re-Stabilisierung. Dann müssen wir auch angeben können, wie die frühen Vorläufer der Rechtskommunikation vor der Verwendung von Schrift operiert haben, wie und warum es zu einem ersten Einsatz von Schrift im Kontext der Rechtskommunikation kam, aus welchen Gründen Schrift immer häufiger eingesetzt wurde – bis hin zu dem Punkt, an dem die Verwendung von Schrift eine Entwicklung der Rechtskommunikation in Gang gesetzt hat, die ohne ihre Verwendung nicht möglich gewesen wäre.
Und dabei muss auch in Rechnung gestellt werden, dass die Schrift selbst eine evolutionäre Entwicklung (von der Strichliste bis zum Gesetzeskodex) vollzogen hat, die dadurch angetrieben wird, dass man Schrift für die besonderen Zwecke der Rechtskommunikation, wie auch in anderen Bereichen, eingesetzt hat.
Wenn es um die Verwendung von Schrift geht, kann man sagen, dass es sich dabei um einen spät einsetzenden evolutionären Mechanismus handelt, der das Rechtssystem richtungweisend geprägt hat, aber auch in anderen Bereichen der gesellschaftlichen Kommunikation mit ähnlichen Erfolgen beobachtet werden kann.

In dem Abschnitt 3 geht es um den spezifisch „rechtlichen“ Mechanismus, der es überhaupt rechtfertigen würde, von einem Vorläufer der Rechtskommunikation zu sprechen, sich als Variation von aller anderen Kommunikation ausnimmt und eigene Formen entwickelt, die eine rudimentäre rechtliche Kommunikation bedingen.

Die Bedingung einer spezifisch rechtlichen Kommunikation benennt Luhmann als „Kommunikation unerwarteter normativer Erwartungen“. Dieses sei der geschichtliche Anfang der rechtlichen Kommunikation, dass Ego und Alter nicht nur gegensätzliche normative Erwartungen haben, sondern dieses auch zum Gegenstand einer Kommunikation miteinander machen können. Damit wird eine wiedererkennbare Standardsituation klassifiziert, in der die Existenz gesellschaftlicher Normen überhaupt erst sichtbar wird, denn ohne die Abweichung des je anderen von einer Norm gibt es keinen Grund, Normen überhaupt zu thematisieren. Erst die Enttäuschung macht mir klar, dass ich eigentlich anderes erwartet habe.

Der spezifisch rechtliche Evolutionsmechanismus ergibt sich aus dieser Standardsituation, weil jeder an den Erwartungen festhalten will und auf eine Klärung drängt. Unbeteiligte bemerken, dass die Kommunikation über normative Erwartungen auch sie betrifft, da dieselben normativen Erwartungen u.U. auch an sie gerichtet sind. Jede Klärung – oder besser: jeder Ausgang – einer solchen Kommunikation verändert die normativen Erwartungen, da diese nun kommuniziert wurden und im Verlauf der Geschichte tendenziell immer expliziter werden.

Dieser Mechanismus treibt die Evolution des Rechtssystems an, das darauf ausgerichtet ist, mit verschiedenen Mitteln diese Standardsituationen aufzulösen. Der Mechanismus ist niedrigschwellig genug, um die Anfänge der Evolution des Rechtssystems erklären zu können. Er setzt nur voraus, dass die Ablehnung des Verhaltens eines anderen kommuniziert werden kann, er lässt sich sowohl in segmentären als auch in stratifikatorischen und in funktional differenzierten Gesellschaften auffinden und bestätigen. Und er macht verständlich, wie und warum davon ausgehend immer feiner differenzierte Formen gefunden werden müssen, um Veränderungen der Umwelt zu begegnen, vor allem der Zunahme von Komplexität.

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