Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 320, K. 07-V

Episode Nr.
74

Einst hierarchisch differenziert, sind Politik und Recht heute funktional differenzierte Systeme gleichen Ranges. Dieser Wechsel der Differenzierungsform wurde erst möglich, nachdem sich das Recht intern ausdifferenzierte: in ein Zentrum und eine Peripherie.

In der Ständegesellschaft waren Politik und Recht nur formal getrennt. In der Praxis stand die Gesetzgebung des Monarchen meist hierarchisch über der Rechtsprechung. Im Übergang zur Moderne kommt es zu einem Wechsel dieser Differenzierungsform. Angestoßen wird der Umbau durch das Verbot der Justizverweigerung. Damit bürden sich Gerichte selbst den Zwang auf, jeden ihnen vorgelegten Fall rechtlich zu entscheiden – auch wenn es gar keine Gesetze gibt, die eine Entscheidung möglich machen.

Dieser Zwang zu entscheiden ermöglicht Gerichten jedoch die Freiheit, selbst Regeln zu entwickeln, wie sie trotz mangelhafter Gesetzeslage entscheiden können. Das Rechtssystem differenziert sich entlang dieser Anforderung intern neu aus nach dem Schema Zentrum/Peripherie. Gerichte bilden nun das Zentrum. Nur im Zentrum muss zwischen rechtmäßigen/unrechtmäßigen Interessen entschieden werden. Alle anderen Operationen des Rechts, von der Gesetzgebung über die Verträge der Wirtschaft bis zum Testament, bilden die Peripherie des Rechtssystems. Dort muss nicht zwischen rechtmäßigen/unrechtmäßigen Interessen unterschieden werden. Gesetze und Verträge sind zwar rechtlich bindend, aber ob sie rechtlich „richtig“ erstellt wurden, ist damit noch nicht gesagt. Nur ein Gericht könnte das entscheiden.

Innerhalb des Kommunikationssystems Recht findet also ein Umbau statt. Das Gericht hat sich seine Alleinzuständigkeit für die Unterscheidung von rechtmäßigen und unrechtmäßigen Interessen gesichert, begründet mit einzigartiger Kompetenz, die sonst nirgendwo in der Gesellschaft erfüllt werden könnte. Aus seinem Entscheidungszwang schöpft das Gericht, wie gesagt, zugleich die Freiheit, bei fehlenden gesetzlichen Grundlagen selbst Regeln zu entwickeln, wie trotz Unentscheidbarkeit entschieden werden kann.

Durch dieses „Richterrecht“ schafft das Gericht jedoch selbst Recht, was gar nicht seine Funktion ist. Diese Paradoxie managen die Gerichte dann in „kognitiver Selbstisolation“: Sie entwickeln strenge, interne Regeln, welche Kompetenzen Richter brauchen, um „Mitglied“ des Gerichtssystems werden zu dürfen, und natürlich: wie Gerichtsverfahren abzulaufen haben und wie man trotz Unentscheidbarkeit entscheiden kann und sogar muss. Im Gegenzug kann die Peripherie Gesetze erlassen und Verträge verabschieden, ohne zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Interessen unterscheiden zu müssen.

Am Ende dieses Umbauprozesses sind Politik und Recht jeweils autonom. Kein System ist „wichtiger“ als das andere. Eine Hierarchie zwischen ihnen gibt es nicht mehr. Aber es gibt eine Hierarchie innerhalb des Zentrums im Recht. Bestimmte Gerichte stehen rangmäßig über den anderen, etwa das Verfassungsgericht an der Spitze. Zugleich gibt es dort segmentäre Differenzierung: Gleiche Gerichtsformen sind in ihrem Rang untereinander gleich.

Damit finden wir heute folgende Differenzierungsformen vor:

  • Differenzierung zwischen Politik und Recht: funktional und segmentär (gleichrangig)
  • Interne Differenzierung des Rechts: Zentrum (Gerichte)/Peripherie (Gesetzgebung und Verträge)
  • Interne Differenzierung im Rechtszentrum: Hierarchie (Rangungleichheit zwischen verschiedenen Gerichten) plus Segmentierung (gleiche Gerichte sind ranggleich)

Der Umbau der Politik/Recht-Differenzierung von hierarchisch auf funktional erforderte also eine weitere Differenzierungsform, die nur innerhalb des Rechts vollzogen wurde: die interne Differenzierung in ein Zentrum für Gerichte und eine Peripherie für Gesetze und Verträge.

Die Peripherie ist die „Kontaktzone“ des Rechts: Hier können Gesetze und Verträge diverser Art entstehen. Ob diese aber auch rechtmäßig sind, entscheiden allein die Gerichte – und nur, wenn es zum Rechtsstreit kommt. Konsensfragen spielen dabei keine Rolle. Die Gerichte entscheiden autonom auf der Basis von geltendem Recht (das sie selbst mit schaffen). Gerade weil sie sich nicht auf Konsensfragen einlassen, stabilisieren sie normative Verhaltenserwartungen an das Recht, auch wenn sie diese im Einzelfall enttäuschen. Konsens- und Verständnisfragen fängt die Peripherie auf.

Kurz, Zentrum und Peripherie verwenden verschiedene Differenzierungsformen. Nur im Zentrum gibt es eine Hierarchie. Entlang dieser Hierarchie entscheiden die Gerichte jeweils autonom. Sie bilden autopoietische Systeme innerhalb des Gerichtssystems. Dagegen kann sich die Peripherie nicht vergleichbar intern ausdifferenzieren. Trotz aller Versuche zum Beispiel, die Gesetzgebung durch Lobbyismus zu beeinflussen: Es könnte auf diese Weise kein zweites Parlament entstehen, weder gleichrangig noch untergeordnet. Es entstehen dabei keine autopoietischen Funktionssysteme, die autonom entscheiden könnten.

Hinzufügen muss man heute, rund 30 Jahre nach Erscheinen des Luhmann-Buches, dass die Bedeutung der privaten Schiedsgerichte als „Alternative“ zu staatlichen Gerichten stark zugenommen hat. Diese schaffen ebenfalls rechtlich bindende Entscheidungen, allerdings mit privat gewählten Schiedsrichtern und mit vertraulichen statt öffentlichen Verfahrensregeln. Dies widerspricht aber nicht Luhmanns Annahme, dass Zentrum und Peripherie jeweils für sich intern asymmetrisch ausdifferenziert sind. Insbesondere gibt es nur im Zentrum hierarchische Differenzierung auf der Basis von Ungleichheit.

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